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Festrede für den Abiturjahrgang anlässlich der Entlassfeier am 24.06.2022

Liebe Abiturientia,

sehr geehrte Eltern und Verwandte,

sehr geehrte Ehrengäste,

liebe Mitglieder der Erasmus-Familie, aktive wie ehemalige,

liebe Freundinnen und Freunde des Erasmus-Gymnasiums,

 

sie sind klein, pummelig und scheinen viel zu massig, um ihren Körper in die Lüfte zu bewegen. Auch die lateinische Gattungsbezeichnung „Bombus“ spricht für sich. Die Aerodynamik sagte lange Zeit: die Hummel kann nicht fliegen. Entgegen der bekannten Gesetzmäßigkeiten rund um das Thema Flugkörper tut sie es dennoch. „Hummeln fliegen – denn sie wissen nichts von irgendwelchen Gesetzen.“ – So ähnlich lautete seit den 1930er Jahren ein Witz unter Studenten. Scherzhaft übernahm sogar ein französischer Insektenforscher namens Antoine Magnan diese Behauptung in seinem Buch „Le Vol des Insectes“.

Der Mensch ist keine Hummel. Er hat keine Flügel. Hätte er welche, stürbe er wie Ikarus an Hochmut oder Unachtsamkeit.

Der Mensch hat keine Flügel?

Dann wäre euer Motto: „ABIleave – I can fly!“ Nonsens – hummeldumm, wie es gelegentlich abwertend heißt.

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

das Gegenteil ist der Fall.

Die Flügel heißen bei uns Menschen Freiheitsdrang, Großmut, Entdeckergeist, Horizonterweiterung. Wir sind entfesselte Himmelsstürmer, Limes-Reisende, Neuland-Pioniere, prometheische Lichtrebellen.

Wir sind keine „Bombi“, sondern Anthropoi, diejenigen, die aufblicken zu den Sternen, deren ewige Seele in einer „Mondnacht“ unbegrenzt aufschwingt, wie es in dem Gedicht von Joseph von Eichendorff aus dem Jahre 1840 heißt.

 

Es war, als hätt’ der Himmel

Die Erde still geküßt,

Daß sie im Blütenschimmer

Von ihm nun träumen müßt’.

 

Die Luft ging durch die Felder,

Die Ähren wogten sacht,

Es rauschten leis’ die Wälder,

So sternklar war die Nacht.

 

Und meine Seel spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.

 

Die Analogie zum Bildungsmotto unseres Namenspatrons: „Ich möchte Welt-bürger sein, überall zu Hause und - was noch entscheidender ist - überall unter-wegs.“, drängt sich auf, wie schon manches Mal in vergangenen Abiturreden.

Im Schreiben halte ich inne und lese die behände verfassten Zeilen erneut. Von Hummeln ist die Rede, von Aerodynamik, von Großmut und Joseph von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“.

Kein Wort von Corona. Kein Wort vom Krieg. Kein Wort von der Ukraine. – Ist das angängig?

Mussten euer Freiheitsdrang, eure Großmut, euer Entdeckergeist, eure Horizonterweiterung nicht Federn lassen, im Würgegriff dieser Ängste evozierenden Schrecken und zermürbenden Sorgen? Womöglich hat eure Seele sogar einen kompletten Flügel eingebüßt. Vielleicht sitzt ihr willig, aber betäubt da, und die ungewisse Zukunft umschattet euch dort, wo sie euch doch eigentlich launig mit Wunschtraumerfüllung locken sollte?

„ABIleave – I can fly!“ - Wie wollt ihr unter diesen Bedingungen losfliegen?

Die Hummel hilft uns weiter. Ihr erinnert euch: „Hummeln fliegen – denn sie wissen nichts von irgendwelchen Gesetzen.“ Das ist grober Unfug, der auf der irrigen Annahme beruht, die Hummel würde ihren Auftrieb auf dieselbe Weise wie ein Flugzeug erzeugen. Zieht man die dafür vorhandenen aerodynamischen Berechnungen heran, wäre es tatsächlich nicht möglich, dass eine Hummel mit einem Durchschnittsgewicht von 1,2g und einer Flügelfläche von 0,7cm² fliegt.

Doch da die Flügelschläge der Hummel nicht mit den steifen Tragflächen eines Flugzeugs vergleichbar sind, gelten auch für den Körper, der vermeintlich zu schwer und rund zum Fliegen sei, andere Regeln.


Das Paradoxon rund um die anscheinende Flugunfähigkeit des kleinen Insekts wurde aufgeklärt, indem die falsche Annahme (Auftrieb wie bei einem Flugzeug) widerlegt wurde. Die Hummel besitzt ein Flügelpaar, welches sich je nach benötigtem Auftrieb über eine Art Gelenk kippen und bewegen lässt. Aus den Bewegungsabläufen der Flügel entsteht ein Luftwirbel, der das Insekt trotz seines hohen Körpergewichts in die Lüfte steigen lässt. Im übertragenen Sinn findet sich ein solches Prinzip auch bei den Rotoren von Hubschraubern wieder.


Und warum hilft uns diese Erkenntnis weiter? Ich will es euch demonstrieren. – Erhebt euch bitte von den Sitzen!

Zunächst einmal ist die Annahme falsch und lächerlich zugleich, der Mensch bräuchte zum Fliegen Flügel. Das ist ja völliger Unfug, braucht er doch lediglich eine Prise Feenstaub von Tinkerbell und den festen Glauben daran, dass es einen verheißungsvollen, abenteuerlichen Ort zwischen Wachen und Schlafen gibt. Dann folgt ihr der Flugbahn eines Peter Pan, dem Inbegriff des freien Geistes, und findet euren Weg nach Nimmeland.

Sollte kein Feenstaub zur Hand sein, so schaut in einen Spiegel. Wenn euch ein versehrtes Einflügelwesen, das nicht fliegen kann, entgegentritt, dann blickt euch nur um und ihr werdet viele andere Einflügler entdecken. Und wenn ihr einander in Liebe umarmt, wie es sich – verdammt noch mal – für Menschen geziemt, anstelle Krieg zu führen, dann werdet ihr, in der Umarmung, mit zwei Flügeln vereint, gemeinsam das Fliegen erlernen.

Vielleicht sind euch diese Optionen aber zu wenig geerdet. Vielleicht erkennt ihr, dass Peter Pan deswegen jung bleibt, damit er von den Auswirkungen der Bildung oder der moralischen Verantwortung eines Erwachsenen nicht belastet wird. Vielleicht ist euch die Parabel der sich umarmenden Engel zu kitschig. Vielleicht wollt ihr zwar Erbauliches hören, allerdings soll es in Wirklichkeit gekleidet sein.


Nun, von der Wirklichkeit weiß ich nichts zu sagen, aber eine ewige Wahrheit will ich euch wissen lassen. Da sie für alle Stehenden und Sitzenden gleichermaßen gilt, möchte ich euch bitten, einmal kurz Blickkontakt zu euren Eltern aufzunehmen: Zur Liebe gehört, genau wie das Umarmen, das Loslassen. Fliegen kann nur, wer losgelassen wird. Ja, Freiheitsdrang, Großmut, Entdeckergeist, Horizonterweiterung – sie haben für eure bisherigen Lebensbegleiter eine Kehrseite. Die Wehmut um eine unwiederbringlich vergangene Zeit und die Ungewissheit, welches Schicksal eurem Wagnis, ins Leben aufzubrechen, beschieden sein wird.

Wie allzumenschlich ist es, dass wir mit Tränen in den Augen feiern, dass wir einander im Loslassen das Beste wünschen und in der Umarmung das Leid teilen, dass wir uns, durch die physikalische Schwerkraft geerdet und gebunden, metaphysisch von Last und Ballast befreien und unsere Flügel aufspannen, dass wir feurig ausrufen „I can fly“ und so häufig stolpern, taumeln, straucheln und fallen, während die bräsige Hummel es einfach nur tut, weil sie es kann und – alternativlos – muss.


So fliegt nun denn davon, nicht als Hummeln, sondern als die Blumen eurer Familien. Und wenn euch die Wehmut oder die Angst einholen sollte auf eurem Lebensflug und ihr gerne in der Heimat urlauben würdet, aber euch die Spannkraft abhandengekommen ist, dann nehmt eine Prise vom original Tinker Bell-Feenstaub, den wir jeder Abiturientin und jedem Abiturienten schenken.

Wir haben den magischen Blütenschimmer in den vergangenen acht Jahren eigenhändig für euch geerntet, an jenem verheißungsvollen, abenteuerlichen Ort zwischen Wachen und Schlafen.

Glaubt ruhig fest daran!


Dr. Michael Collel



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