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Fritz Stern: Ein Funken aus der Vergangenheit

Anlässlich seines 100. Geburtstags am 18.09.2023 durften wir vom ErasBlog ein Interview mit Fritz Stern, einem ehemaligen Schüler unserer Schule, führen*.


ErasBlog: Wie heißen Sie?

Fritz Stern: Mein Name ist Fritz "Fred" Stern.


ErasBlog: Wie alt sind Sie?

Fritz Stern: Ich wäre heute, am 18.09.2023, hundert Jahre alt geworden. Ich bin jedoch im Alter von 98 Jahren gestorben.


ErasBlog: Wo wurden Sie geboren? Und wo sind Sie aufgewachsen?

Fritz Stern: Ich wurde in Grevenbroich geboren und bin hier auch aufgewachsen. Außerdem habe ich die älteste Schule Grevenbroichs besucht, das damalige Progymnasium.


ErasBlog: Welchen Schulabschluss haben Sie und wie würden Sie Ihre Zeit auf dem Progymnasium im Rückblick beschreiben?

Fritz Stern: Wenn ich das Progymnasium länger besucht hätte, hätte ich die mittlere Hochschulreife. Jedoch habe ich mich später dazu entschieden, in Düsseldorf eine Ausbildung als Schlosser zu machen. Damals durften nicht mehr als 1,5% der Schülerschaft aus Juden bestehen. Diese Quote wurde schon mit meinem älteren Bruder Walter und einer jüdischen Mitschülerin erreicht. Im Jahr 1932 fand nämlich der Zusammenschluss der Mädchenschule und des damaligen Progymnasiums, welches nur von Jungen besucht werden durfte, statt. Eigentlich hätte ich viel früher die Schule verlassen müssen, jedoch durfte ich aufgrund dessen, dass mein Vater im ersten Weltkrieg Soldat war und einen Ehrenorden besaß, länger bleiben. Derweil wurde ich oft von Mitschülerinnen und Mitschülern diskriminiert. Dementsprechend habe ich mich sehr unwohl gefühlt. Meine Entscheidung, die Schule zu verlassen, um eine Ausbildung als Schlosser zu beginnen, wurde zum Teil von diesem Unwohlsein beflügelt. Meinem Vater gefiel meine Entscheidung gar nicht, für ihn war Bildung sehr wichtig, weshalb er darauf bestand, dass ich meine allgemeine Hochschulreife erwerbe. Wenn ich den Erwerb meines Hochschulabschlusses damals gewollt hätte, hätte ich es auch geschafft, meine Noten waren nämlich nicht schlecht.


ErasBlog: Warum haben Sie nicht die mittlere Hochschulreife erworben (und den Wunsch Ihres Vaters erfüllt)?

Fritz Stern: Ich habe ja schon erwähnt, dass ich durch die Handlungen meiner Mitschülerinnen und Mitschüler ausgegrenzt wurde, ich wurde aber auch von meinen Lehrkräften diskriminiert, die ebenfalls dem damaligen NS-Weltbild folgten. Ich wurde sogar von einem meiner Lehrer vor allen anderen Schülerinnen und Schülern geohrfeigt. Das war wahrscheinlich eines der schlimmsten Ereignisse in meiner schulischen Laufbahn.


ErasBlog: Wir wissen, dass die NS-Zeit sehr schwer für Sie und Ihre Familie war. Aber wie war denn Ihre Kindheit vor der NS-Zeit? Können Sie sich an unbeschwerte Tage erinnern?

Fritz Stern: Ich war ein sehr glückliches Kind, ich habe oft mit unserem Nachbarsjungen gespielt. Generell hatten wir ein wirklich gutes Verhältnis zu unseren Nachbarn. Wir haben sogar gemeinsam Weihnachten gefeiert und uns gegenseitig beschenkt. Es gibt auch noch ein Bild, auf dem wir zu fünft unter einem Weihnachtsbaum mit Geschenken um uns herum zusammensitzen.


ErasBlog: Wie hat Ihre Flucht angefangen? Sie erwähnten Ihr Ziel, aber nicht, was Sie erlebten.

Fritz Stern: Eines Tages hat die Gestapo meinen Vater und meinen Opa abgeholt, wir wussten natürlich nicht warum. Wir wussten aber, dass etwas nicht stimmt, deshalb mussten mein Bruder Walter und ich uns in einem Getreidesilo verstecken. Mehrere Tage sind wir nicht zur Schule gegangen und als man nach uns gefragt hat, hat man gesagt, man wisse nicht, wo wir seien. Als mein Vater und mein Großvater später zurückkamen, erfuhren wir, dass die beiden in ein Konzentrationslager gebracht wurden.


ErasBlog: Wie sind Sie als Familie mit der damaligen Lage umgegangen?

Fritz Stern: Am Ende war es eine sehr schwere Zeit für alle Jüdinnen und Juden. Dementsprechend war es auch für meine Familie und mich eine sehr schwere Zeit. Jedoch haben wir als Familie immer zusammengehalten. Meine Großeltern blieben hier und meine Eltern und ich konnten dank einer Verwandten nach Amerika flüchten. Wir hatten, was das betrifft, sehr viel Glück. Auch hatten wir Glück, weil wir uns das Flüchten leisten konnten. Meine Großeltern waren sehr wohlhabend, sie besaßen Läden, haben Getreide verkauft und hatten gute soziale Kontakte, wodurch sie sich sogar ein Auto importieren lassen konnten. Denn das Flüchten aus dem Deutschen Reich musste man aus der eigenen Tasche zahlen und sich mit dem Geld Tickets, Proviant und weitere wichtige Dinge kaufen. Später folgte uns mein Bruder, er war davor in Palästina und bekam ein Visum, um nach Amerika zu kommen. Auch mein Onkel war dort, hat jedoch kein Visum bekommen und wählte deswegen den Freitod.


ErasBlog: Wie war das Leben in Amerika für Sie? Hatten Sie dort auch mit Rassismus zu kämpfen?

Fritz Stern: Der Prozess, mich dort zu integrieren, war natürlich schwer, aber im Großen und Ganzen war die Situation dort besser als alles, das ich hier in Deutschland noch erlebt hätte. Alle Herausforderungen, die ich in den USA meistern musste, waren deutlich angenehmer, als wenn ich in Deutschland geblieben wäre und wegen meiner Herkunft und meines Glaubens ermordet worden wäre.


ErasBlog: Haben Sie in Amerika denn Ihre eigene Familie gegründet?

Fritz Stern: Ja, ich habe meine Frau Hannelore geheiratet und wir haben einen Sohn namens David. Das war schon lange nachdem ich die amerikanische Staatsangehörigkeit angenommen hatte, und auch für die Vereinigten Staaten in den Krieg im pazifischen Raum gezogen bin.


ErasBlog: Abgesehen von ein paar Besuchen, sind Sie nicht zurück nach Deutschland gekommen. Weshalb haben Sie sich entschieden, in den Vereinigten Staaten zu bleiben?

Fritz Stern: Man muss sagen, dass der Mensch ein „Gewohnheitstier“ ist. So hatten wir uns nach einer gewissen Zeit an das Leben in den Vereinigten Staaten gewöhnt. Auch nach dem Ende des Krieges war die Lage in Deutschland immer noch kritisch, außerdem haben sich die Ansichten der meisten Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Deutschland nicht von heute auf morgen geändert. Wir hätten natürlich wieder zurück nach Deutschland kommen können, aber dies hätte erneut viele Schwierigkeiten mit sich gebracht.


ErasBlog: Wir haben ja gerade schon angerissen, dass Sie für Besuche hin und wieder zurück nach Deutschland gekommen sind. Wie fühlt es sich denn an, zurück in Grevenbroich zu sein?

Fritz Stern: Es sind definitiv ziemlich gemischte Gefühle. Man ist zwar glücklich, weil man einer der wenigen Juden ist, der die NS-Zeit überlebt hat, andererseits stellt man sich vor, wie es gewesen wäre, wenn Jüdinnen und Juden nicht verfolgt und ermordet worden wären. Bei meinem späteren Besuch wurde ich ja herzlich von den Grevenbroicherinnen und Grevenbroichern begrüßt, genauso wie vom Erasmus-Gymnasium. Es hat sich viel verändert in Grevenbroich. Die Orte, die ich noch aus meiner Kindheit kannte, waren mir fremd. Ob das Progymnasium, der Synagogenplatz in der Innenstadt oder mein Elternhaus. Auch die Einstellung der deutschen Bürgerinnen und Bürger gegenüber Juden, Ausländern, Homosexuellen und Menschen mit Behinderungen hat sich größtenteils ins Positive geändert. Für euch ist es inzwischen viel normaler, damals war das unvorstellbar. Dazu muss man auch sagen, dass eine so radikale Änderung eines Landes nicht selbstverständlich ist. Während meiner Zeit in Grevenbroich durfte ich z.B. im Goldenen Buch unterschreiben, mir die Akten meines Urgroßvaters im Stadtarchiv anschauen, mich mit dem damaligen Schulleiter Herrn Jung unterhalten und auch eine Diskussion über den Nationalsozialismus mit den Oberstufenschülerinnen und Oberstufenschülern führen. Außerdem habe ich meinen ehemaligen Schulkameraden Adolf Pick wiedergetroffen. Es war wirklich schön, sich nach so vielen Jahren mit ihm auszutauschen.


ErasBlog: Vielen Dank Herr Stern, für diesen privaten Einblick in Ihre Vergangenheit. Es erschüttert uns, dass Sie so viele schlimme Dinge erleben mussten, jedoch sind wir froh, mit Ihnen gesprochen haben zu können. Ruhen Sie in Frieden.

EE, MF & AM

 

* Dieses Interview mit Fritz Stern ist rein fiktiv. Wir wissen nicht, wie er in Wirklichkeit auf die Fragen geantwortet hätte, haben uns aber große Mühe gegeben, uns in seine Lage hineinzuversetzen und Antworten zu finden, die seinen möglichst nahekommen könnten.

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